Fachbeitrag

Kieferorthopädie

08.02.24

Kieferorthopädie im digitalen Workflow

Christian Born, Dr. André Hutsky

Es gibt viele Gründe für den Einstieg in die digitalisierte Welt der Zahnmedizin. Hierzu zählen die Qualitätsoptimierung oder die Vereinfachung von Arbeitsprozessen, aber auch der zunehmende Fachkräftemangel zwingt Zahnarztpraxen und Labore dazu, neue Wege zu beschreiten, um anfallende Arbeiten schneller, effizienter, einfacher und vor allem ressourcen- und materialschonender erledigen zu können. Wie das gelingt, zeigen die Autoren anhand des Bio Expander Systems (BES) zur Herstellung metallfreier Geräte zur Stellungskorrektur für Kinder und Erwachsene.

Intraoralscanner und geeignete 3D-Drucksysteme gehören mittlerweile zum Standardrepertoire modern aufgestellter KFO- und Zahnarztpraxen. Kieferorthopädische Apparaturen hingegen werden im Regelfall noch manuell hergestellt. Dieser althergebrachte Fertigungsprozess ist jedoch zeit- und kostenaufwendig und unterliegt zudem einer Vielzahl von qualitätseinschränkenden Faktoren. Es wun­dert daher nicht, dass sich bewährte Fräs- und Fertigungssysteme auch im Bereich kieferorthopädischer Versorgungen einer wachsenden Beliebtheit erfreuen (Abb. 1). Exemplarisch für diesen Trend steht das neu konzipierte Bio Expander System (BES) von Cultus Dentes, welches unter anderem die Herstellung metallfreier Zahnspangen bzw. metallreduzierter Apparaturen ermöglicht, sollten zusätzlich aktive Elemente erforderlich sein (siehe dd Grafik, rechte Seite). In Kombinationstherapie mit und ohne Aligner soll es insbesondere für Zahnkorrekturen im Wechselgebiss von Kindern und Jugendlichen geeignet sein. Gleichermaßen ist es als „transparente“ Lösung perfekt zur Stellungskorrektur bei der Erwachsenenbehandlung, da diese zunehmend Wert auf möglichst unsichtbare Behandlungsapparaturen legen.

Das Prozedere
Für die Fertigung von „Aktiven Platten“ zur Kieferdehnung werden bislang monomerhaltige Streukunststoffe eingesetzt, die nicht nur das Allergiepotenzial erhöhen, sondern auch in ihrer Anwendung fehleranfällig sind: Beim Streuen kommt es aufgrund von Blasenbildung oder nicht auspolymerisierten Bereichen immer wieder zu Verfahrensfehlern. Im Falle von BES werden hingegen hochvernetzte, industriell gefertigte und MMA-freie Clear­splint-Kunststoffrohlinge eingesetzt, die sich zudem durch eine gleichbleibende Qualität auszeichnen. Denkbar genial: Das Design der „Aktiven Platte“ wird zuvor CAD-basiert am Rechner designt, wobei aktive Elemente wie Schrauben zielgerichtet genestet werden können und die Endsituation simuliert werden kann.
Der finale Datensatz wird dann CAM-seitig umgewandelt und das Fräsobjekt in einem geeigneten Frässystem wie der Organical Desktop 9CS und aus dem dafür bereitstehenden Clearsplint BES Ortho Rohling „herausgefräst“. Anschließend lässt sich das Fräsobjekt einfach und sauber aus der Fräsronde heraustrennen, und sämtliche aktiven Elemente lassen sich in die vorher designten Hohlräume einschrauben beziehungsweise darin verkleben (Abb 2a und b).

Praxis und Patient profitieren
Dank der Materialeigenschaften und der Herstellungsweise erhält man verzugsfreie und fast geschmacksneutrale kieferorthopädische Geräte. Gleichzeitig reduziert sich das Risiko der Plaqueakkumulation, da die Fräsrohlinge einen bereits hohen Vernetzungsgrad aufweisen. Dies unterstützt den behandelnden Kieferorthopäden und die Patienten für eine kariesfreie Behandlung (Abb. 3a bis c).
Da die Hochleistungskunststoffe stark verdichtet sind, besteht wenig Möglichkeit, Wasser aufzunehmen. Die Farbe bleibt demzufolge bei richtiger Pflege und entsprechend geeignetem Pflegemittel beständig und wird nicht gelblich.

Vorteile für Labor und Umwelt
Für das zahntechnische Laborteam hält das System ebenfalls vielfältige Vorteile parat (siehe Tabelle auf S.41). Bei der Herstellung der zahntechnischen Leistungen selbst können bis zu 50 % der Kosten und die verbundenen Arbeitszeiten eingespart und demzufolge die Wettbewerbsfähigkeit und der betriebswirtschaftliche Ertrag gesteigert werden. Die Schadstoffbelastung im Labor wird massiv verringert, da der Umgang mit giftigen Dämpfen monomerhaltiger Substanzen vermieden bzw. deutlich reduziert werden kann. Die Fräsobjekte werden bereits mit einem hohen Finalisierungsgrad aus dem Rohling entnommen, deshalb reduziert sich die Nachbearbeitung auf ein Minimum. Gleichermaßen verringert sich hier natürlich die damit einhergehende Staubentwicklung. Sollte unmittelbar von einem Intraoral­scan aus geplant worden sein, entfällt in einigen Fällen sogar die Modellherstellung. Das wiederum reduziert den Verbrauch von Werkstoffen und letztendlich den Abfall und wird dem Anspruch an mehr Schutz für die Umwelt gerecht.

Ausblicke
Sollte das System im unterschnittfreien Gebiss angewandt werden, müssten die dazugehörigen Zähne zuvor mit Klebe­attachments versehen werden. Bei starker Verzahnung ist ein Aufbiss notwendig, wobei allerdings eine gleichzeitige Klasse II-/ Klasse III-Behandlung möglich wäre, wie im Fall einer Twin-Block-Apparatur (Abb. 4). Erste Feldstudien deuten darauf hin, dass das BES-System später auch für „Bimaxilläre Geräte“ in Kombination mit Multiband und Aktivatoren zum Einsatz kommen könnte.
Die Aussage eines ersten Anwenders im Rahmen einer Pilotstudie, an der neben kieferorthopädischen Praxen auch eine deutsche Universitätsklinik involviert ist, lautet: „Das ist schon irgendwie ein Quantensprung: metallfreie Zahnspange, wenn es ‚nicht‘ Invisalign ist. Sehr gut durchdacht und produziert. Und für Umweltzahnmediziner nicht uninteressant, oder?!“ Dr. M. Ermert, Berlin.
Aus zahntechnischer Perspektive gilt: Durch klare und definierte Prozesse in der Fertigung sind Planzeiten genauer und man kann die Terminierung der Patienten besser steuern. Die Plattendesigns unterliegen aus CAD-Sicht kaum Grenzen – aus materialspezifischer Perspektive jedoch schon. Voreingestellte Profile erleichtern das Designen. So kann man sich als Beispiel ein VSD-Profil mit allen Elementen speichern. Im entsprechenden Patientenfall fügt man dieses Profil ein und muss nur noch die Klammern zeitreduziert anpassen (Abb. 5a und b). Natürlich sind die klassischen, bekannten Einzelelemente, wie C-Klammern, Labialbögen oder Protrusionsfedern genauso in Platten designbar wie ganze komplexe Apparaturen, z. B. Bionatoren oder Aktivatoren. Bei dieser flexiblen Gestaltung sind andere Behandlungswege, etwa Multiband, integrierbar (Abb. 6a bis c). Durch ein vorgelagertes Set-up ist ein zielgenaues Ausblocken möglich und das lästige Freischleifen entfällt.
Mit dem Wegfall vieler analoger, und verfahrensanfälliger Fertigungsschritte lässt sich die Fehlerquote und eben der Aufwand mit dem BES-System enorm senken. Entfällt bsw. die Modellherstellung, reduziert man die damit verbundenen Übertragungstoleranzen gegen Null, was wiederum eine sehr hohe Passgenauigkeit garantiert.

Und wenn repariert 
werden muss?
BES selbst ist mit einem auf derselben Materialbasis entwickelten Streukunststoff anpolymerisierbar, sodass sich Kleinteile wie Federn oder Schrauben auf die bekannte Art und Weise miteinfügen lassen. Damit bleibt es ein Material. Sollten Reparaturen erforderlich sein, können diese ohne eine Neuanfertigung schnell ausgeführt und die Behandlung kann fortgesetzt werden. Sollte trotzdem eine Neuanfertigung, etwa aufgrund eines Verlusts, erforderlich werden, lassen sich diese dank der vorliegenden digitalen Designdatensätze schnell und effizient reproduzieren. Um die Tragemotivation zu erhöhen, stehen Clearsplint BES Ortho Discs in Kürze in den weiteren Farbvariationen Hellblau und Magenta zur Verfügung (Abb. 7).
Das Clearsplint-BES-Material wird durch Erwärmen im Wasserbad bei ca. 50° C über mindestens 20 Sekunden leicht flexibel und ist damit einfacher in den Patientenmund inserierbar und verfügt über einen leichten Rückstellungsmechanismus (Abb. 8a bis d). Die Abbildungen 9a bis j demonstrieren die einfache Gestaltung eines komplexen bimaxillären Gerätes von dem Design bis hin zur Abgabe in das Behandlungszimmer.

Digitale Umsetzung
Sollte ein Intraoralscan aus dem Patientenmund vorliegen, müssen gegebenenfalls 3D-Modelle mittels geeigneter CAD-Software wie OnyxCeph3 digital erstellt werden. Hierzu werden die erfassten Kiefer digital getrimmt, Datenlöcher geschlossen, der jeweils erforderliche Standardsockel angefügt und die so erstellten Modelle digital mit der codierten Patientennummer signiert.
Nachdem die Modelle CAD-basiert generiert wurden, können diese im additiven Verfahren mittels Stereolithografie (SLA), im Digital Light Processing (DLP) oder Filamentdruck-/Extrusionsverfahren (FDM/FFF) erzeugt werden. Dazu wird der Modelldatensatz in einer druckerspezifischen Slicing-Software in druckfähige Einzelschichten in der gewünschten Schichtstärke in der Regel 50 oder 100 µm zerlegt. Diese Schichtdaten werden codiert an den Drucker gesandt. In der Kieferorthopädie finden häufig Filamentdrucker ihren Einsatz. In diesen wird ein Filament mithilfe eines Extruders erhitzt und bahnweise aufgetragen, bis das fertige Druckobjekt vorliegt und aus dem 3D-Drucksystem entnommen werden kann. Seit geraumer Zeit können auch „gipshaltige“ Filamente verdruckt werden, die klassischen Gipsmodellen farblich ähnlich sind und die sich dank ihres hohen Gipsfüllgehalts sogar mit einer Fräse oder einem scharfen Instrument anpassen lassen.

Konventionell hergestellte ­kieferorthopädische GeräteDigital hergestellte kieferorthopädische Geräte mit dem Bio Expander System
BasismaterialHeiß- oder KaltpolymerisatCLEARsplint Hochleistungskunststoff aus EEMA
RestmonomergehaltHeißpolymerisate < 1,5 %
Kaltpolymerisate < 2 %
MMA-frei
HomogenitätJe nach Verarbeitung sind unterschiedliche Ergebnisse zu erwartenUnter Druck industriell hergestelltes ­Polymerisat ist extrem homogen und dicht und weist nur eine geringe Wasseraufnahme auf
AllergiepotenzialJa, je nach Herstellungsart und verwendetem KunststoffReduziertes Allergiepotenzial durch ­industrielle Fertigung
Sicherheit am ArbeitsplatzBei der chemoplastischen Verarbeitung des Kunststoffs entstehen gesundheitsschädliche Dämpfe und Belastungen der HautKeine Monomerbelastung und Hautreizung bei der Herstellung der kieferorthopädischen Geräte im Labor, da auspolymerisierter Kunststoff verwendet wird
PassungProzessbedingte PassungenauigkeitenExtrem hohe Passgenauigkeit durch ­CAD/CAM Fertigung
SchrumpfungMaterialbedingte Schrumpfung beim ­Polymerisieren (nicht verzugsfrei)Weder Polymerisations- noch thermische Schrumpfung bei der Verarbeitung 
(verzugsfrei)
VerfärbungVerfärbungsgefahr je nach ­HerstellbedingungIndustriell hergestellter EEMA-Kunststoff ist sehr farbstabil
BruchgefahrErhöhte Bruchgefahr beim Herunternehmen vom ModellDurch modellfreies Arbeiten keine ­Bruchgefahr
GeschmackNicht geschmacksneutralNahezu geschmacksneutral
BearbeitungImmer aufwendige Nachbearbeitung ­notwendigMinimale, manuelle Nachbearbeitung; alle Strukturen sind bereits so angelegt, dass sie einfach polierbar sind
Verbund Zähne zur BasisBesonders bei Kaltpolymerisat kann es zu schlechtem Verbund zwischen Draht-/KFO-Elementen und der gestreuten Basis kommen, was zu „schwarzen Rändern“ an den Grenzflächen führen kannDie Konstruktion ist aus einem „Stück“ ­gefräst. Sollten dennoch gefräste Konstruktion mit anderen Elementen verbunden werden müssen, sorgt die Verwendung identischer Kunststoffe für eine äußerst ­stabile chemische Verbindung
ErsatzNeuanfertigung nötigReproduzierbarkeit durch CAD/CAM Technik gewährleistet, Daten liegen vor
ReparaturmöglichkeitMit jedem handelsüblichen KaltpolymerisatOhne Verwendung eines zusätzlichen Kunststoff-Connectors möglich
Qualität des DesignsIn Verbindung mit Streukunststoff sehr ­undefiniert und ungenauDurch CAD, klar definierte und reproduzierbare Konstruktion, damit gleichbleibende Qualität
Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen konventionell zu digital hergestellter, kieferorthopädischer Geräte basierend auf dem BioExpanderSystem (BES) mit CLEARsplint BES Ortho Discs.

Fazit
Die Digitalisierung erfasst nahezu alle Bereiche unseres Lebens. Aus kieferorthopädischer Sicht stellt eine frästechnologische Herstellung von KFO-Apparaturen den nächsten logischen Schritt in der Optimierung standardisierter Prozesse dar. Neueste biokompatible Werkstoffe verwirklichen diesen Schritt nunmehr und bilden zugleich ein bestmögliches Konglomerat aus hochpräziser Fertigung, maximalen Freiheitsgraden und attraktiver Wirtschaftlichkeit. Es bleibt spannend, welche vielfältigen neuen digitalen Wege mit dem Bio Expander System für einfache und kombinierte, kieferorthopädische Behandlungen noch möglich sein werden.
Das bereits seit Jahren bekannte und bewährte Clearsplint Material der Firma astron/USA für die Herstellung von Aufbissschienen und Interimsversorgungen, wird in Kürze auch als Clearsplint BES 
Ortho Disc über die Firma Kentzler-Kaschner Dental auf dem europäischen Markt erhältlich sein.

Vita:
Christian Born ist Gründer und Geschäftsführer von Cultus Dentes, ein Fachlabor für KFO-Technik sowie der Ortho Native 3D GmbH, ein Unternehmen, das sich der Forschung und Entwicklung von 3D-Technik für die Zahntechnik widmet. Born ist Ingenieur für Maschinenbau, qualifizierter KFO-Zahntechniker und Referent für digitale KFO-Technik.

Vita:
Dr. André Hutsky ist Zahnarzt und Mitglied der Geschäftsführung der Organical CAD/CAM GmbH. Er leitete die Obdachlosenzahnarztpraxen der MUT gGmbH, war zahnmedizinischer Sachverständiger (PKV), Geschäftsführer der biodentis Schulungszentrum GmbH und akademischer Leiter der Studiengangsentwicklung B. Sc. Digitale Dentale Technologie an der praxisHochschule Köln.

Kontakt
Dr. André Hutsky, MBA
andre.hutsky@organical-cadcam.com
Christian Born
christian.born@cultus-dentes.de

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03b - Diverse gefräste Retentionsgeräte im Patientenmund (basierend auf BES) für ein reduziertes Kariesrisiko

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