{"id":347,"date":"2022-03-25T12:13:20","date_gmt":"2022-03-25T11:13:20","guid":{"rendered":"https:\/\/dentaldialogue.de\/?p=347"},"modified":"2022-04-08T14:31:32","modified_gmt":"2022-04-08T12:31:32","slug":"wie-viel-okklusion-braucht-die-natur-teil-1","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/dentaldialogue.de\/wie-viel-okklusion-braucht-die-natur-teil-1\/","title":{"rendered":"Wie viel Okklusion braucht die Natur?\u00a0\u2013 Teil\u00a01"},"content":{"rendered":"\n\n

Der in der Zahnmedizin und in der Zahntechnik betriebene Ger\u00e4te- und Konzept\u00adfetischismus wird allzu oft falsch aufgefasst. Es scheint der Kodex vorzuherrschen: Je komplizierter, umfangreicher und teurer ein Ger\u00e4t oder aufwendiger eine Arbeitsweise oder ein Konzept ist, desto besser muss das Endergebnis sein. Und dabei ist ein Konzept zun\u00e4chst nur eine Idee von etwas und davon, wie es sich verh\u00e4lt oder wozu es da sein k\u00f6nnte. Erweitert handelt es sich bei einem Konzept um eine gemeinsame Idee von etwas, eine Vorstellung, die jeder versteht, ohne zun\u00e4chst einen ganz konkreten Gegenstand oder dessen Umsetzung vor Augen zu haben. Das Autorenteam besteht aus zwei Generationen: Norbert Wichnalek, der den analogen Workflow beschreibt, und Lukas Wichnalek, zusammen mit Arbnor Saraci, die im zweiten Teil des Fachartikels (dd 9\/21) den digitalen Workflow vorstellen.<\/strong><\/p>\n\n\n\n\n\n

Bei der Herstellung des hier gezeigten Onlays kamen nur einfachste Mittel und Ger\u00e4te zum Einsatz. Ganz bewusst haben wir auf \u201eHightech\u201c verzichtet, denn was letztendlich z\u00e4hlt, das ist nicht der Weg, sondern immer das Endergebnis. Eine okklusale Restauration ist immer ein Kompromiss. Die sogenannte \u201eideale Okklusion\u201c, wenn es diese \u00fcberhaupt gibt, kann man zwar anstreben, aber man wird diese nie erreichen. Okklusion ist nichts messbares, Okklusion ist etwas Individuelles. Schon zu Beginn der Artikulationsforschung haben Gr\u00f6\u00dfen wie Gysi, Thielemann, Hanau, um nur einige zu nennen, erkannt, dass man ein \u201ebiomechanisches System\u201c nicht auf mechanischen, mathematisch genauen Kausimulatoren umsetzen kann. Dr. Carl Hiltebrandt, der Gr\u00fcnder der Vita Zahnfabrik, sagte in den 1930iger Jahren: \u201edie Okklusion kann nicht aus der Betrachtung der Morphologie einzelner Z\u00e4hne verstanden werden, sondern nur aus dem lebendigen Wirkungsgef\u00fcge (Kybernetik) des Gesamtorganismus heraus.\u201c Man spricht heute immer mehr von ganzheitlicher Medizin, nur die Aufwachskonzepte versteifen sich auf ein kleines Feld. Bei diesem Beitrag handelt es sich nicht um den \u201eStein der Weisen\u201c, er erf\u00fcllt allein den Zweck eines Denkansto\u00dfes und bildet lediglich unsere jahrelangen positiven Erfahrungen ab.<\/p>\n\n\n\n\n\n


Teil 1 \u2013 das goldene (analoge) Zeitalter<\/strong><\/p>\n\n\n\n\n\n

Zum Thema Gnathologie und Okklusion kam schon vieles auf den dentalen Markt, seien es Behandlungs- und Aufwachskonzepte oder jede Menge an teuren, komplizierten und mechanischen Ger\u00e4tschaften: Kausimulatoren, Artikulatoren in den verschiedensten denkbaren Konstruktionen (Abb.\u20091)<\/strong>, Registrierinstrumentarien (Abb.\u20092)<\/strong> und vieles mehr. Tendenz der damit einhergehenden Komplexit\u00e4t steigend. Alte Konzepte wurden von neuen oder wieder neu entdeckten Konzepten abgel\u00f6st oder verworfen. Viele Ger\u00e4tschaften verstaubten daraufhin in Kellern und wurden von neuen, noch komplizierteren und noch teureren abgel\u00f6st. Das war wie ein Rausch, und dass, obwohl beinahe alle Konzepte und Apparaturen auf der Grundlagenforschung basieren, die vor \u00fcber 100\u00a0Jahren begann und von Koryph\u00e4en wie Gysi, Hanau, Thielemann, Fritsch, Pfaff, Snow, Gritmann und so weiter vorangetrieben wurden. In dieser Zeit wurde auf die komplexe Biologie des Kauorgans ein reduktionistischer, aus der Empirie heraus entwickelter, mechanistisch-naturwissenschaftlich orientierter Diagnose- und Therapieansatz projiziert\u00a0[1]. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Artikulationsforschung, Funktionsanalyse und Gnathologie. Der Begriff Biomechanik wurde schon in der damaligen Zeit verwendet. Bedauerlicherweise ist ein klinischer Erfolg, so bemerkenswert er auch sein mag, kein wissenschaftlicher Beweis f\u00fcr den direkten Zusammenhang von Ursache und Wirkung\u00a0[2]. Manche Aufwachskonzepte werden immer wieder \u201eneu erfunden\u201c und mit neuen Terminologien versehen, erweitert, zerlegt und verkompliziert. Auf der Basis einfacher Dinge werden so neue Philosophien aufgebaut, die immer komplizierter und praxisfremder werden.
Es gibt ein breites Angebot an Arbeitskursen, in denen die Teilnehmer tagelang in die \u201eneuen alten\u201c Geheimnisse der Gnathologie und Artikulation eingeweiht werden. Es werden zahlreiche naturgetreue Kaufl\u00e4chen in verschiedenfarbigen Wachsen aufgebaut und es wird in rein mechanischen und sehr komplizierten Kausimulatoren versucht, den Bewegungsablauf des Unterkiefers zu \u201eknacken\u201c. Gearbeitet wird meist auf idealen Phantommodellen, deren Zahnreihen so jungfr\u00e4ulich sind, dass der Patient, so es ihn gegeben h\u00e4tte, noch nicht damit gekaut haben d\u00fcrfte. In manchen F\u00e4llen sind diese Aufwachsmodelle sogar g\u00e4nzlich k\u00fcnstlich hergestellt und spiegeln somit dem menschlichen Verstand entsprungene idealisierte Kaueinheiten wider. Leider klafft jedoch zwischen der theoretischen, aber praktikablen M\u00f6glichkeit und der Wirklichkeit eine recht gro\u00dfe L\u00fccke. Man darf gespannt sein, wann die ersten Fissuren-Arbeitskurse angeboten werden\u00a0\u2013 nat\u00fcrlich f\u00fcr Fortgeschrittene und Anf\u00e4nger, abermals unterteilt in Kurse f\u00fcr jugendliche Fissuren, Fissuren mittleren Alters und Abrasions-Fissuren. Es w\u00e4re auch nicht verwunderlich, wenn dazu dann die entsprechenden Fissuren-Spezial-Modellierinstrumente auf den Markt k\u00e4men \u2013 selbstverst\u00e4ndlich im Set. Ein buntes, spezielles Fissurenwachs, eine Arbeitsmappe und eventuell ein Anleitungs-Video auf DVD w\u00fcrden die ganze Sache abrunden.
In vielen Aufwachskonzepten werden Kontaktsituationen angestrebt, bei denen die Molaren bis zu 14\u00a0Kontaktpunkte aufweisen. Zudem werden exzentrische Bewegungen im \u201estarren\u201c Artikulator durchgef\u00fchrt, dessen \u201eKondylen\u201c auf mathematisch pr\u00e4zisen Gelenkbahnen gleiten. So wird versucht, die nat\u00fcrliche Artikulation in einer mechanischen Apparatur nachzuahmen. W\u00fcrde ein Patient derartige Unterkieferbewegungen durchf\u00fchren, so m\u00fcsste sich der Unterkiefer wie ein Breakdancer bewegen, also abgehackte, starre und geradlinige Bewegungen vollf\u00fchren. Und dies, obwohl jeder Patient doch seine eigene Art zu Kauen hat. Das ist ein Fakt, den wir technikverliebten Zahntechniker nur schwer nachvollziehen k\u00f6nnen oder wollen.
Eine der Kernaussagen des dritten Bands des Klassikers \u201eZahn\u00e4rztliche Prothetik\u201c\u00a0[3] lautet: \u201eDie Lehre von Rotationspunkten und -achsen hat heute nur noch den Zweck, die Art und Weise der verschiedenen elementaren Kieferbewegungen beschreiben zu k\u00f6nnen und sich von denselben eine richtige Raumvorstellung machen zu k\u00f6nnen. Nat\u00fcrlich handelt es sich bei diesen Rotationspunkten und -achsen nie um feststehende Achsen, sondern immer nur um Momentanachsen.\u201c Wie wir alle wissen, weist jeder Artikulator eine feste Achse auf\u00a0\u2013 auch der teuerste. Alle bis dato bestehenden, sogenannten Aufwachskonzepte, auch jene mit den theoretisch gedachten okklusalen Richtungsangaben und Orientierungshilfen, sind unserem stomatognathen System k\u00fcnstlich auferlegt. Oft wird damit eine \u201eIdeal\u201c-Verzahnung angestrebt. \u201eIdeal\u201c dr\u00fcckt die \u00dcbereinstimmung mit einem zuvor festgelegten Standard aus \u2013 einer perfekten, harmonischen Zahnbeziehung. \u00dcber dies ist es schwierig, den Begriff \u201eideal\u201c zu verwenden, da er einer subjektiven Interpretation unterliegt. Wie Goldman und Cohen 1968 feststellten\u00a0[4], gibt es \u201enur wenige Anhaltspunkte, die uns pr\u00e4zise sagen, wie und in welcher Weise die Z\u00e4hne beim Homo Sapiens gestellt sein m\u00fcssen\u201c. Die Bandbreite der anatomischen Variationen zwischen dem Menschen ist au\u00dferordentlich weit gef\u00e4chert (Abb.\u20093 und\u00a04)<\/strong>. Uns muss klar sein, dass diese Abweichungen nicht per se ungesund, abnorm oder pathologisch sein m\u00fcssen.
Dr.\u2009Eugen End untersuchte die statische und die dynamische Okklusion klinisch und instrumentell und stellte bei 100 eugnathen und unversehrten Gebissen fest, dass im Seitenzahnbereich unter physiologischen Bedingungen pro Kiefer im Durchschnitt 20\u00a0Kontaktpunkte nachgewiesen werden konnten\u00a0[5], also zehn in einem Quadranten mit einer Bandbreite von 6\u00a0bis 14\u00a0Punkten. Dr.\u2009End konnte zudem beobachten, dass sich die Kontaktpunkte im Oberkiefer vorwiegend auf den inneren Abh\u00e4ngen der palatinalen H\u00f6cker und im Unterkiefer auf den inneren Abh\u00e4ngen der bukkalen H\u00f6cker auf unterschiedlicher H\u00f6he befinden. Zudem zeigten sich nur wenige Randwulstkontakte. Und auch auf den inneren Abh\u00e4ngen der Scherh\u00f6cker zeigen sich weniger Kontakte. Dr.\u2009End bemerkte zudem, dass die Frontz\u00e4hne alle oder auch nur teilweise Kontakt haben k\u00f6nnen \u2013 und zwar gleichzeitig und gleichm\u00e4\u00dfig mit den Seitenz\u00e4hnen. Dabei handelt es sich in der Front eher um einen leichten Ber\u00fchrungskontakt. Auffallend bei seinen Beobachtungen war die gro\u00dfe Individualit\u00e4t der Kontaktverh\u00e4ltnisse. Nur elf Prozent der untersuchten F\u00e4lle wiesen eine beidseitige sogenannte Frontzahnf\u00fchrung auf (von nun an FZ-F\u00fchrung genannt). Nach Ramfjord et al\u00a0[6] existiert kein wissenschaftlicher Beweis f\u00fcr die Annahme, dass eine FZ-F\u00fchrung oder das Vorhandensein eines Eckzahnschubes als Kriterium f\u00fcr eine sogenannte \u201eideale Okklusion\u201c anzusehen ist. Nicht die Z\u00e4hne f\u00fchren, sondern das zentrale Nervensystem ist die entscheidende Gr\u00f6\u00dfe. Ergo wird der Unterkiefer neuronal mit einer immer wiederkehrenden Pr\u00e4zision in eine Position gebracht, in der die zentrischen H\u00f6cker in die zentrischen Gruben ihrer Antagonisten passen, dort zu einer Zerquetschung der Nahrung f\u00fchren und der Kontakt sofort wieder gel\u00f6st wird. Nach Lauritzen\u00a0[7] betr\u00e4gt diese Kontaktzeit beim Kauen im Schnitt 173\u00a0Millisekunden. Die Hauptmenge der Faserb\u00fcndel des Desmodonts verl\u00e4uft von der Alveole schr\u00e4g apikalw\u00e4rts gerichtet zum Wurzelzement. In der Hauptrichtung der Kaulast sind diese Faserb\u00fcndel funktionell ausgerichtet. Das hei\u00dft, dass die Seitenz\u00e4hne von Natur aus nur in der L\u00e4ngsachse belastet werden sollten. Die zentrale Achse der Molaren sollte so weit wie m\u00f6glich von ihren L\u00e4ngsachsen entfernt liegen. Zudem kann die Zentrik, die wir in habitueller Interkuspidation einnehmen, nur die einzige physiologische Kontaktbeziehung nach sich ziehen, die wir kennen \u2013 auch in unseren Artikulatoren. Alle anderen Kontaktpositionen und -bewegungen sind unphysiologisch und werden von den an der Behandlung beteiligten Teampartnern (Zahn\u00e4rzten, Zahntechnikern et cetera) willk\u00fcrlich am Patienten durchgef\u00fchrt. Doch wir sollten keine Kaubewegungen f\u00fchren, wir sollten eigentlich Kaubewegungen nachvollziehen. Denn Kaubewegungen sind individuell verschieden und auch abh\u00e4ngig von der zu zerkleinernden Nahrung.
Das typische Kaumuster eines Erwachsenen, aufgenommen in der frontalen Ebene, zeigt eine Tropfenform; mit einer \u00d6ffnungsphase (Abb.\u20095)<\/strong>, die medial der Schlie\u00dfphase liegt. Beim Kauen entspricht das maximale Ausma\u00df der Bewegung in vertikaler und lateraler Sicht ungef\u00e4hr der H\u00e4lfte der \u00fcberhaupt m\u00f6glichen Bewegungen (Grenzbewegungen). Diese Grenzbewegungen werden in der Regel beim Sprechen und beim Kauen nicht ausgef\u00fchrt, k\u00f6nnen aber vom Patienten willk\u00fcrlich demonstriert werden (nicht gef\u00fchrte Bewegungen) oder werden durch Manipulation des Unterkiefers vom Kliniker durchgef\u00fchrt (gef\u00fchrte Bewegungen, etwa bei der Axiographie, Pantographie et cetera). Basis f\u00fcr Funktionsanalysen und Restaurationen sollte jedoch der unbewusst reflektorisch kauende Mensch sein und nicht der, der seinen Unterkiefer bewusst in alle Richtungen bewegt. Die funktionelle Stellung des Unterkiefers beim Kauen stimmt nie mit seiner Grenzstellung \u00fcberein. Grenzbewegungen stellen die extremen Positionen dar, die der Unterkiefer einnehmen kann. Thielemann brachte es auf den Punkt\u00a0[8]: \u201eDie Techniker k\u00f6nnen uns die wunderbarsten Apparate zur Nachahmung der unverst\u00e4ndlichsten Kieferbewegungen konstruieren. Die Frage ist nur, ob es denn zweckm\u00e4\u00dfig ist, die durch solche Ausweichbewegungen in unserem Gebiss zustande gekommenen, abnormen Kieferbewegungen zu registrieren und danach dann den Zahnersatz zu konstruieren.\u201c Sehr h\u00e4ufig werden die Zahnreihen beim Kauen durch eine d\u00fcnne Lage Speisebrei voneinander getrennt. Also gleiten die Zahnreihen auf dem Speisebrei ohne Kontakt in die Zentrik. Dieser Vorgang kann in keinem Artikulator nachvollzogen werden. Wie Dubner\u00a0[9] feststellte, kann Kauen unilateral, bilateral oder bilateral alternierend ausgef\u00fchrt werden. Zudem haben die meisten Menschen eine bevorzugte Kauseite. Allerdings lernen auch Kinder mit erblicher Nichtanlage der Z\u00e4hne das Kauen, sodass f\u00fcr diesen Vorgang das Vorhandensein von Z\u00e4hnen abdingbar zu sein scheint. Eine neuere und allgemein eher akzeptierte Theorie, die sich mit der Kontrolle der Mastikation besch\u00e4ftigt, besagt, dass das zyklische Bewegungsmuster der Mastikation von einem zentralen, neuronalen Programm mit Sitz im Hirnstamm bereitgestellt wird und dass dieses Programm auch ohne Afferenzen seitens der intraoralen Rezeptoren arbeiten kann\u00a0[10]. Gleichartige \u201eMustergeneratoren\u201c sind bei einer Vielzahl von Tieren bekannt und sollen f\u00fcr die Kontrolle von zyklischen Aktivit\u00e4ten verantwortlich sein. Unterst\u00fctzung f\u00fcr die Theorie eines zentralen Mustergenerators liefern Studien, in denen bei Menschen und Tieren auch bei An\u00e4sthesie der Gingiva, des Parodontiums und der Kiefergelenke rhythmisches Kauen beobachtet werden konnte. Die An\u00e4sthesie l\u00e4sst also zwar die F\u00e4higkeit abnehmen, den Speisebolus zu kontrollieren, beeinflusst aber nicht die zyklischen Kaubewegungen. Andere Experimente haben gezeigt, dass die die Kaut\u00e4tigkeit stimulierenden rhythmischen Aktivit\u00e4tsausbr\u00fcche der motorischen neuronalen Versorgung der Musculi masseter und digastricus bei der vollst\u00e4ndigen Blockade der muskul\u00e4ren Aktivit\u00e4t durch einen neuromuskul\u00e4ren Blocker nicht unterbrochen werden\u00a0[11].
Jede Abformung ist ein Unikat, und mit ihr wird lediglich die momentane Zahnsituation festgehalten. Die statische Okklusion kann jedoch aufgrund der K\u00f6rper- und Kopfhaltung, der Psyche, der Tageszeit, aber auch infolge der Mobilit\u00e4t der Z\u00e4hne sowie einer elastischen Deformation der Knochen (vor allem der Unterkieferspange) Ver\u00e4nderungen erfahren. Untersuchungen, die ich bei mir selbst durchgef\u00fchrt habe, best\u00e4tigen dies. Daf\u00fcr formte ich in unregelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden meinen Ober- und Unterkiefer mit Alginat ab. Die so gewonnenen Alginatabformungen wurden mit Gips ausgegossen, und so Situationsmodelle hergestellt. Diese zeigten in der habi\u00adtu\u00adellen Okklusion immer wieder ein wenig abweichende neue Kontaktbeziehungen (es wurde immer mit demselben Gips und denselben Folien gearbeitet). Und so zeigte sich, dass zum Beispiel nach einer Erk\u00e4ltung die Kontaktpunkte sp\u00e4rlicher als nach einem stressigen Arbeitstag ausfielen. Am Morgen nach dem Aufstehen zeigten sich geringf\u00fcgig andere Kontaktpunkte als am Abend. Diese empirischen Beobachtungen best\u00e4tigten mir nochmals, dass eine Abformung immer nur die momentane Situation in einem sich st\u00e4ndig \u00e4ndernden System festh\u00e4lt \u2013 einem System, bei dem alle Teile mehr oder weniger elastisch sind. Prof.\u2009K.\u2009K\u00f6rber stellte in Untersuchungen fest, dass die Z\u00e4hne so fein im Kiefer aufgeh\u00e4ngt sind, dass man an den Z\u00e4hnen sogar den \u201eHerzschlag\u201c messen kann\u00a0[12]. Franco Mongini bemerkte, dass das Unterkiefergelenk auf Grund einer Nachmodellierung erhebliche morphologische Ver\u00e4nderungen erfahren k\u00f6nne\u00a0[13]. Nur das zahntechnische Gipsmodell und der Artikulator sind starr und stellen somit eine de facto fast un\u00fcberwindbare Diskrepanz zur Natur dar. Jeder Artikulator kann nur nach einem rein mechanischen vorgegebenen Muster sogenannte Grenzbewegungen ausf\u00fchren. Der starre Gelenkkopf gleitet dabei auf einer starren Gelenkbahn, und dass, obwohl im Kiefergelenk doch alle Teile mehr oder weniger elastisch sind. Die Gelenkscheibe ist eine feste, aber flexible Struktur. Sie gleicht die Inkongruenzen zwischen der Oberfl\u00e4che des Kondylus und dem Gelenkh\u00f6cker aus. W\u00e4hrend der Kondylenbewegung ver\u00e4ndert die Gelenkscheibe entsprechend ihre Form und Lage.
Hanau dr\u00fcckte es so aus\u00a0[14]: \u201eDer Kauapparat ist vom mechanischen Standpunkt aus betrachtet ein Scharniergelenk mit gleitender Drehachse. Der nat\u00fcrliche oder wiederhergestellte Kauapparat verh\u00e4lt sich indessen wegen des Vorhandenseins von Weichgeweben nicht wie ein starrer, metallischer Apparat, vielmehr sind in ihm nachgiebige und starre Teile in sehr empfindlichen physiologischen Verh\u00e4ltnissen vereinigt.\u201c Der \u00dcbertrag eines biomechanischen Systems auf rein mechanische Ger\u00e4te hat ihre Schw\u00e4chen. Der Zahnarzt arbeitet im Patientenmund, in einem biomechanischen System, an dem die Kiefergelenke, die Muskulatur, die Ligamente, der Zahnhalteapparat, die Zunge und das zentrale und periphere Nervensystem beteiligt sind. Dahingegen arbeitet der Zahntechniker am starren Gipsmodell, in einem starren Artikulator, der nach mathematischer Genauigkeit einstellbar und konstruiert ist. Ergo ist die Kaufl\u00e4che, die wir auf diesem Weg produzieren, immer ein k\u00fcnstliches Produkt\u00a0\u2013 unabh\u00e4ngig davon, wie natur\u00e4hnlich diese aussieht. Auch anthroposophische Studien bringen hier kein \u201eLicht ins Dunkel\u201c des stomatognathen Systems. Vielmehr wurden interessante, evolutionsbedingte Dinge festgestellt und entdeckt, und mit neuen Terminologien versehen. Allerdings sehe ich f\u00fcr den zahntechnischen Praxisalltag keine brauchbare Umsetzung der in dieser Disziplin gewonnenen Erkenntnisse.
Es gibt mehrere Wege, k\u00fcnstliche Okklusion herzustellen. Diese reichen von langen, komplizierten Behandlungen mit einem intensiven Zeit- und Apparaturaufwand bis hin zu einfachen, direkten Wegen. Der erste Weg sieht folgenderma\u00dfen aus: komplette, pr\u00e4zise Abformung der beiden Kiefer, Gesichtsbogen\u00fcbertragung oder Registrierung der Gelenkbahnneigung und so weiter und so fort. Die daraus gewonnenen Modelle werden mit Hilfe der mitgelieferten Bisse und Registrierhilfen einartikuliert oder die Modelle werden in der habituellen Interkuspidation in \u201ehochwertige\u201c Artikulatoren einartikuliert. Wie so oft zeigen die Modelle (je kleiner eine Arbeit ist) eine sp\u00e4rliche Kontaktbeziehung. Diese wenigen Kontakte sind laut Gnathologie jedoch unwahrscheinlich, sodass man versucht, mit Hilfe von Okklusionsfolie, Skalpell oder einer feinen Fr\u00e4se eine \u201eVielpunktkontaktsituation\u201c zu erreichen. Man manipuliert also die Kontaktsituation. Viel besser klingt jedoch der Ausdruck \u201eEquilibrierung der Interkuspidation\u201c, was wiederum nichts anders ausdr\u00fcckt als das Anpassen der Okklusionsfl\u00e4chen im Ober- und Unterkiefer. Manchmal wird sogar versucht, Schlifffacetten aufeinander zu bringen\u00a0\u2013 da Schlifffacetten dann als Referenz f\u00fcr den Kontakt gesehen werden. Dies ist aber sehr oft nicht m\u00f6glich, da manche Schlifffacetten w\u00e4hrend der Dentition entstanden sind, oder das System sich erneut ver\u00e4ndert hat.
Wir m\u00fcssen uns vor Augen f\u00fchren, dass derartige Manipulationen am Gipsmodell immer willk\u00fcrlich sind. Das gilt auch f\u00fcr sogenannte Kontaktpunktprotokolle, f\u00fcr die der Behandler mit einer Shimstock-Folie die gesamte Verzahnung \u00fcberpr\u00fcft und die am jeweiligen Zahn wahrgenommenen Kontakte auf ein Zahnschema \u00fcbertr\u00e4gt und dort mit einem Plus kennzeichnet oder aber die Kontakte mit Okklusionsfolie \u00fcberpr\u00fcft und auf dem Zahnschema anzeichnet. Im Ergebnis kann selbst trotz solcher Vorbem\u00fchungen Zahnersatz dabei herauskommen, der eine Bisserh\u00f6hung oder eine Non-Okklusion zur Folge hat. Es h\u00e4ngt von der Erfahrung, Intuition und Tagesverfassung des Technikers ab, ob und inwieweit ein Zahnersatz \u201epasst\u201c\u00a0\u2013 oder nicht. Wie anfangs beschrieben, sind alle Teile des stomatognathen Systems mehr oder weniger beweglich. Minimale Okklusions\u00adst\u00f6rungen machen eine exakte Modellmontage unm\u00f6glich, da die starren Gipsz\u00e4hne keine Eigenbeweglichkeit aufweisen. Die Diskrepanz zwischen der tats\u00e4chlichen Mundsituation und den einartikulierten Gipsmodellen ist dazu einfach zu gro\u00df und die erzeugte Situation zu ungenau. W\u00e4hlt man den zweiten Weg, wird die Situation in der habituellen Interkuspidation abgeformt. Der Zahnarzt verwendet daf\u00fcr einen Quadranten-L\u00f6ffel (Abb.\u20096)<\/strong>, Check Bite Tray oder Scheufele-L\u00f6ffel. Bei diesen \u201eL\u00f6ffeln\u201c befinden sich der Ober- und Unterkiefer bei der Abformung in einer habituell r\u00e4umlich korrekten Lage zueinander. Das Abformmaterial ist bei derartigen Abformungen an den Stopps durch\u00adgebissen (Abb.\u20097)<\/strong>. Der Vorteil liegt dabei darin, dass der Patient beim Zubei\u00dfen minimale okklusale St\u00f6rungen selbst korrigiert. Sind also im Mund des Patienten geringf\u00fcgige Vorkontakte vorhanden, was bei sehr vielen Patienten der Fall ist, so f\u00fchren diese im Moment des Schlie\u00dfens und Aufeinandertreffens der Z\u00e4hne zu einem Auslenken des betroffenen Zahnes. Der Zahn vermag beim ersten okklusalen Kontakt aufgrund seiner Eigenbeweglichkeit etwas auszuweichen. Eine F\u00e4higkeit, die der starre Gips des Modells nicht hat. Im Gegensatz zu der \u00fcblichen Abformmethode, bei dem bei offenem Mund der jeweils ganze Kiefer abgeformt wird, ist bei der beschriebenen Methode das Risiko, dass sich die Unterkiefer-Spange beim \u00d6ffnen elastisch verformt, weitgehend ausgeschlossen. Diese Verformung des Unterkiefers kann bis zu einigen Milli\u00admetern betragen. Und diese verformte Situation wird dann mit der Abformung und dem daraus gefertigten Gipsmodell \u201eeingefroren\u201c und zur Herstellung von Zahner\u00adsatz genutzt. Dadurch k\u00f6nnen nicht nur okklusale St\u00f6rungen erzeugt werden, sondern auch die approximalen Kontakt\u00adpunkte stimmen h\u00e4ufig nicht mit denen im Gips\u00admodell \u201efestgehaltenen\u201c \u00fcberein. Meist sind die Approximalkontakte des auf der Basis derartiger Modelle erzeugten Zahnersatzes im Patientenmund zu streng.<\/p>\n\n\n\n\n\n

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\u201eFunktionst\u00fcchtiger Zahnersatz ist und war f\u00fcr mich schon immer ein wichtiges Thema. Wie viele andere zu dieser Zeit pilgerte auch ich zu meist sehr theoretischen Fortbildungen, bei denen auf k\u00fcnstlichen Kaueinheiten und Phantommodellen gearbeitet wurde. Es wurden die unterschiedlichsten Thesen aufgestellt, die von einem rein mechanischen, ja beinahe mathematisch pr\u00e4zisen Denkmodell ausgingen. Gerade so, als w\u00e4re das mastikatorische System ein Uhrwerk. Obwohl die meisten Fortbildungen didaktisch sehr gut aufgebaut waren, warteten die dentalen \u201ePilger\u201c vergeblich auf ein \u201eWunder\u201c, denn in den Hypothesen und Denkmodellen war kein Platz f\u00fcr das zentrale Nervensystem. Das liegt vermutlich daran, dass dieses mechanisch nicht richtig einordbar war und ist. Nach vielem Hinterfragen, Durchforsten diverser wissenschaftlicher Literatur zu diesem Thema und durch Selbststudium und Selbsterfahrung verblasste meine rein mechanische gnathologische Faszination sehr rasch. Bereits 1997 schrieb ich den ersten Teil dieses Artikels, bei dem es sich um eine dokumentierte Arbeit aus dem Jahr 1995 handelt. Doch irgendwie geriet dieser Beitrag in Vergessenheit. Wom\u00f6glich war damals, im Rausch der mechanischen Kaufl\u00e4chen-Funktionsgestaltung, die Zeit noch nicht reif f\u00fcr meine Gedanken.\u201c<\/p>\n<\/div>\n\n\n\n\n\n

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