Fachbeitrag

Grundlagen & Forschung

30.03.22

„Schneide rein, Hals raus“

TiF – Totalprothetik in Funktion – Teil 1 & 2

Henry Theiling

Aufstellmethoden gibt es einige. Für welche man sich entscheidet, hängt letztlich von vielen Faktoren, beispielsweise den eigenen Vorlieben, ab. Eines sollte jedoch klar sein:
Ohne ein Konzept, einfach nur nach „Art des Hauses“, ist die denkbar schlechteste Methode. Der Autor bevorzugt die Totalprothetik in Funktion (TiF). Er widmet sich zunächst intensiv der Modellanalyse, denn diese zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit. Wenn sie konsequent nachverfolgt wird, führt das zu optimalen Ergebnissen.

Teil 1: Grundlagen

Egal welche Aufstellung, ob nach Gerber, APF, APF NT oder TiF, entscheidend ist, dass wir als Zahntechniker eine totale Prothese herstellen, die unseren Patienten im Hinblick auf Funktion und Ästhetik passt und sie begeistert. Um dieses Ziel zu erreichen, sind eine klare Aufgabenverteilung und vertrauensvolle Teamarbeit notwendig. Das systematische Herstellen einer Prothese ist in allen Fällen immer der schnellste, sicherste und kostengünstigste Weg. Alle Ansätze, nach „Art des Hauses“ zu arbeiten, werden für einen der drei Betroff­enen, Patient, Zahntechniker oder Zahnarzt, immer nachteilig sein. Da das Labor einen Arbeitsauftrag vom Zahnarzt erhält, somit eine Leistung für ihn erbringt, sind die Verantwortlichkeiten rein rechtlich klar geregelt. Das ist aber kein Freibrief für das Labor, in Bezug auf die Arbeitsunterlagen Kompromisse einzugehen. Nur wenn alle ihre Aufgaben gewissenhaft und korrekt erfüllen, werden wir unsere Patienten zufriedenstellen können.

Im Folgenden stelle ich zunächst nur die Funktion in den Vordergrund, deren Erfüllung die Grundlage dafür schafft, eine ästhetisch ansprechende Prothese herstellen zu können. Zur Herstellung einer totalen Prothese haben sich für mich im ­Lauf meines Berufslebens folgende sechs Mindestan­forderungen herauskristallisiert, drei für den Zahnarzt und drei für den Zahntechniker. Dabei ist noch nicht einmal die perfekte Funktionsabformung das Hauptproblem, vielmehr liegt der eigentliche Schwerpunkt bei der Bissregistrierung.

1. Ausrichtung der Okklusionsebene nach der Camper‘schen Ebene
Sollte die Okklusionsebene vom Zahnarzt nicht eindeutig festgelegt worden sein, wird es schwer oder gar unmöglich, eine stabil sitzende Prothese herzustellen. Nach wie vor ist einer der einfachsten Wege dafür die parallele Ausrichtung der Okklusionsebenen mit einer Bissgabel (Okklusionom) an der Oberkieferbissschablone – und zwar nach der Camper‘schen Ebene (Abb. 1).

2. Parallelität zur Bi-Pupillar-Linie
Das Gleiche gilt auch für die Parallelität der Okklu­sionsebenen zur Bi-Pupillar-Linie (Abb. 2). Denn nur die Einhaltung der natürlichen Gegebenheiten gewährleistet eine funktionierende Totalprothese. Die linke und die rechte Gesichtshälfte unterscheiden sich bei fast allen Menschen, die Augen liegen somit nicht immer auf der gleichen Höhe. Dabei stimmt jedoch unsere Okklusionsebene mit dem natürlichen Horizont unserer Augen überein. Daher muss diese Parallelität auch in der Bissregistrierung
Berücksichtigung finden.

3. Beachtung der Vertikaldimension
Die Beachtung der Vertikaldimension ist eine der elementaren Voraus­setzungen für die folgenden Punkte 4, 5 und 6 (Abb. 3). Wir diskutieren oft darüber, um wie viel „der Biss“ angehoben werden kann. Dafür gibt es kein allgemeingültiges Rezept. Auffällig ist aber, dass die Vertikale schon nahezu der ursprünglichen Situation entspricht, wenn der Condylus wieder in der Zentrik ist. Das ist dann auch gleichzeitig die Voraussetzung dafür, die UK-Seitenzähne an die ursprüngliche Position (lingual von der Kieferkammmitte) zu stellen, um eine Kreuzbisssituation zu vermeiden und gleichzeitig Platz für die Zunge zu schaffen. Wurden diese ersten Anforderungen erfüllt, liegt es an uns, auf diesen Grundlagen weiterzuarbeiten.

4. Die größte Kaueinheit liegt im tiefsten Punkt des Unterkieferkammverlaufs
Das Ermitteln des tiefsten Punktes für die größte Kaueinheit (größter Zahn) bei der Unterkiefer-Seitenzahnaufstellung ergibt nur Sinn, wenn sich die Kaueinheit im rechten Winkel zur Okklusionsebene befindet und den Kaudruck über den tiefsten Punkt im Unterkiefer auf den Knochen überträgt. Sollte dies nicht der Fall sein, wird es zu Bewe­gungen der Prothese auf dem Prothesenlager kommen, die Druckstellen und damit Atrophien des Knochens hervorrufen.

5. Autonome Kaustabilität
Nur wenn die Prothese lagestabil aufgestellt wird, wird sie auch auf dem schmalsten Knochen ­stabil sitzen. Was bedeutet autonome Kaustabilität? Unabhängig davon, auf welchen Zahn – vom 6er bis zum 1er, ob im Oberkiefer oder Unterkiefer – Kaudruck ausgeübt wird, darf die Prothese keinen Bewegungen auf der Basis unterliegen.

6. Eindeutige Zentrik
Wenn wir es nicht schaffen, bei Einhaltung der vorgenannten Punkte eine zentrische Okklusion herzustellen, wird die Prothese über die schiefen Ebenen der Höckerabhänge erneut Bewegungen auf der Prothesenbasis ausführen.

Tipp: Jeder Kontakt in der Okklusion benötigt einen Ausgleichskontakt, der die Kräfte, die auf eine schiefe Ebene ausgeübt werden, neutralisiert. Dabei ist es zunächst einmal egal, ob mit maxi­malen Vielpunktkontakten, Dreipunktkontakten oder lingualisierten Kontakten aufgestellt wird.

Zum Schluss noch ein Hinweis für im­plan­tat­ge­tragenen Zahnersatz zahnloser Patienten: Bei ihnen gelten diese Grundregeln für eine totale Prothese umso mehr, da diese Patienten keinerlei taktiles Gespür mehr besitzen und somit jede Unzulässigkeit intolerabel ist und sich zum Nachteil für den Sitz und die Funktion der bedingt festsitzenden oder festsitzenden Arbeiten und schlimmstenfalls auf die Implantate auswirken wird.

Teil 2: Die Modellanalyse

Im Folgenden stelle ich die TiF-Methode vor, bei der auf der Basis einer nur wenige Minuten dauernden Modellanalyse Zahnpositionen sowie statisch günstige Belastungsbereiche des Prothesenlagers ermittelt werden. Das System basiert auf dem von Prof. Dr. A. Gerber formulierten und von Peter Lerch weiterentwickelten Totalprothetik-Konzept, das Karl-Heinz Körholz für das Erlernen der Arbeitsschritte für die Zahnaufstellung modifizierte. Des Weiteren beschränke ich mich auf die Grundlagen der Modellanalyse, die je nach Situation (Kreuzbiss) weiter modifiziert werden kann.
Bevor die Aufstellbasen aufgezogen werden, wird die Modellanalyse nach dem Einsetzen der Modelle durchgeführt. Sie liefert Informationen darüber, wo die Zähne früher gestanden haben und die Konfektionszähne aus statischer und prothetischer Sicht aufgestellt werden müssen.

1. Schritt
Ermittlung der anatomischen Modellmitte (Abb. 4 und Abb. 5)

2. Schritt
Frontzahnmarkierungen anzeichnen (Abb. 6)

3. Schritt
Seitenzahnbereich: Grundstatik und Vierer-Positionen markieren

3.1. Grundstatik im Oberkiefer
Die Vierer-Position befindet sich im Oberkie­fer im Bereich der Verlängerung der Wangenbändchen von vestibulär in Richtung Kieferkamm oder leicht dahinter. Sie wird mit einem kleinen roten Punkt auf dem Kieferkamm markiert. Die Position der Vierer kann auch mithilfe der bereits vorhandenen Eckzahn-Markierung ermittelt werden. Die Vierer liegen ungefähr eine Prämolarenbreite hinter der Eckzahn-Markierung. Von den oberen Vierer-Positionen wird je eine Verbindungslinie zu den Mittelpunkten der Tuber gezogen und auf die Modellränder verlängert. Diese beiden Linien bilden die Grundstatik im Oberkiefer. Sie zeigen im Wesentlichen die Ideallinien für die Lage der tragenden Palatinalhöcker an.

Aufgrund der eher geradlinigen Atrophie der Kieferkämme im Bereich der verloren gegangenen ersten Prämolaren sorgt die Ermittlung der Grundstatik dafür, dass die Seitenzähne wieder annähernd auf ihre ursprüngliche Position gestellt werden.

So entsteht zwar wiederum eine Gerade, die jedoch durch die sich später anschließende Außen- und Innenkorrektur modifiziert wird. Dies gilt ebenso für den Unterkiefer.

3.2. Grundstatik im Unterkiefer
Die Vierer-Position befindet sich im Unterkiefer im Bereich der Verlängerung der Wangenbändchen von vestibulär in Richtung Kieferkamm oder leicht dahinter. Dort werden sie ebenfalls mit einem kleinen roten Punkt auf dem Modell markiert. Von den Vierer-Positionen wird im Unterkiefer je eine Verbindungslinie zu den Mittelpunkten der retromolaren Polster gezogen und auf die Modellränder verlängert. Diese beiden Linien bilden die vorläufige Grundstatik im Unterkiefer und markieren im Wesentlichen die Ideallinien, in deren Verlauf die Zentralfissuren der unteren Seitenzähne liegen. Aufgrund des von innen nach außen gerichteten Kieferkammabbaus liegen die Zentralfissuren dann fast wieder an ihrer ehemaligen Position.

4. Schritt – Festlegen der größten Kaueinheit des Unterkiefers
Das statische Zentrum der unteren Totalprothese liegt in der Regel im Bereich der ehemaligen ersten Molarenposition (Abb. 7). An dieser Stelle ist wiederum ein Zahn aufzustellen, der die größte Kauleistung aufbringen muss, ohne dabei eine verstärkte Atrophie des Kieferkamms zu provozieren. Er nimmt die Kaukräfte entsprechend der Wirkungsrichtung der Kaumuskeln auf und leitet sie in physiologischer Richtung auf das Prothesenlager weiter. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um den ersten unteren Molaren, wenn die sagittale und transversale Kieferrelation dies zulässt.

5. Schritt
Bestimmung des letzten belastbaren Zahns (Stopplinie) (Abb. 8)

6. Schritt
Seitenzahnbereich: Außen- und Innenkorrektur bestimmen (Abb. 9)

Die obere und die untere Zahnreihe müssen aufeinander ausgerichtet werden. Dabei ist bereits während der Modellanalyse zu berücksichtigen, ob eine Eckzahn-Prämolaren-Führung oder eine balancierte Okklusion (Minimalanforderung ist der sog. Dreipunktkontakt) verwirklicht werden soll. Grundsätzlich gilt in jedem Fall, dass die Zähne nicht zu weit nach bukkal oder oral stehen dürfen, damit sich der Patient weder in die Wange noch auf die Zunge beißt und die Kaukräfte entsprechend der Zugrichtung der Kaumuskeln aufgenommen werden können. Die Funktionen der Außenkorrekturen bestehen im Auffinden des gemeinsamen statischen und dynamischen Aufstellbereichs, der Vermeidung von Kreuzbissaufstellungen sowie der Gewährleistung der Wangenabstützung. Die Aufgaben der Innenkorrekturen bestehen in der Schaffung eines möglichst großen Zungenfreiraums, einer damit verbundenen möglichst ungestörten Phonetik und ebenso im Auffinden des gemeinsamen statischen und dynamischen Aufstellbereichs.

Oberkiefer

Außenkorrektur
Sie bildet jeweils die vestibulärste Begrenzung der oberen und unteren Bukkalhöcker. Wird sie im Oberkiefer überschritten, müssen die Höcker außer Kontakt gestellt werden, um ein Abhebeln oder ein Abkippen der Prothese zu vermeiden.

Innenkorrektur
Sie begrenzt im Oberkiefer die Lage der Palatinalhöcker, im Unterkiefer markiert sie die maximale linguale Lage des Zahnäquators, um die Zunge nicht einzuengen.

7. Schritt
Ermittlung der gemeinsamen Aufstellbereiche zwischen Ober- und Unterkiefer (Abb. 10)

8. Schritt
Festlegen der definitiven Aufstelllinie (Abb. 11)

Im Idealfall liegen sich Außen- und Innen­­kor­rek­turen im Ober- und Unterkiefer symmetrisch gegenüber – die Lagestabilität ist problemlos gewährleistet. Nun ist dies gerade bei bereits länger mit totalem Zahnersatz versorgten Patienten selten der Fall. Die Abstände zwischen der oberen und der unteren Grundsta­tik werden durch Halbieren ermittelt.
Von der Außen- und der Innenkorrektur wird diejenige verwendet, die der neuen definitiven Aufstelllinie am nächsten liegt, und dann auf den jeweiligen Gegenkiefer übernommen. Weiterhin hat man jetzt die Entscheidungsmöglichkeit, inner­halb des gemeinsamen Aufstellbereichs eine Verschiebung der definitiven Aufstelllinie nach bukkal oder nach oral vorzunehmen, um weitere Aspekte der Statik zu beachten.

Ausblick
In Teil 3 (dd 11/2019) widmet sich der Autor auf der Basis der Modellanalyse der Aufstellung der Prothesenzähne.

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1-3 -  Okklusions- und Camper‘sche Ebene. Bi-Pupillar-Linie und Okklusionsebene. links: gesunder Kiefer ohne Knochenverlust, rechts: aufzubauender Vertikalverlust

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