Bericht

Azubi-Wissen

26.04.22

Was ist Kieferorthopädie?

Kieferorthopädie und die etwas andere Zahntechnik

Heike Pietack

Prof. Dr. Dr. E. Reichenbach und H. Brückl definieren den Begriff Kieferorthopädie wie folgt: „Unter Kieferorthopädie verstehen wir das ärztliche Vorgehen, die Fehlbildungen der menschlichen Zähne und Kiefer zu heilen. Die Orthopädie ist die Lehre von der Verhütung, Minderung und Beseitigung körperlicher Fehler, besonders des Bewegungsapparates. Es ist deshalb die Aufgabe der Kieferorthopädie, die Gebissentwicklung prophylaktisch zu beeinflussen und pathologische Erscheinungen im mandibulo-maxillären Bereich zu mindern oder zu beheben.“ Dabei wird nicht der „biometrische Zahnbogen mit 32 Zähnen“ sondern das „funktionelle Optimum“ eines jeden Patienten angestrebt.

Die Aufgabe des kieferorthopädisch arbeitenden Zahntechnikers besteht darin, die für die Therapie notwendigen Behandlungsmittel in optimaler Ausführung herzustellen.
Daraus resultiert, dass sich dir als Zahntechniker, der sich für die kieferorthopädische Zahntechnik entscheidet, ein völlig neues, interessantes, aber auch anderes Aufgabengebiet eröffnet. Anders als in der Prothetik, wo mithilfe der zahntechnischen Arbeiten Zahnreihen geschlossen oder völlig ersetzt werden, greifen die von dir hergestellten kieferorthopädischen Apparaturen in den Entwicklungs- und Wachstumsprozess des Patienten ein und ermöglichen dem Patienten, dass er richtig abbeißen und essen oder den Mund normal schließen kann.

Deine praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten nützen dir aber nichts, wenn du von den klinischen Aspekten und dem Ziel der Therapie nichts weißt.

Du musst nicht nur über die einzelnen Phasen der Entwicklung des Gebisssystems – beginnend mit der pränatalen Stufe über das Milchgebiss bis zum bleibenden Gebiss – Bescheid wissen, sondern auch Kenntnis über das Bisslageverhältnis zwischen Oberkiefer und Unterkiefer und das funktionelle Zusammenspiel von Kiefer, Weichteilen und Muskulatur haben.

Genauso wichtig ist es, dass du die Funktion und Wirkungsweise der von dir gebogenen Halte- und Federelemente kennst, dass du weißt, wofür die verschiedenen Stellschrauben gebraucht werden, um alles korrekt in der „Zahnspange“ zu platzieren, sodass sie später uneingeschränkt wirken können.

Eine Gebissanomalie sollte so früh wie möglich erkannt und kieferorthopädisch behandelt werden.
Im Normalfall beginnt man nach dem Beginn der

2. Wechselgebissperiode mit der meist vierjährigen Behandlung, weil in diesem Alter der weitere Zahndurchbruch und das Gebisswachstum beeinflusst werden können.
Den zu erwartenden Wachstumsschub des Patienten nutzend, kann oftmals mithilfe wenig aufwendiger therapeutischer Maßnahmen eine anormale Gebissentwicklung mit weitreichenden Folgen beseitigt oder von Anfang an verhindert werden.

In den meisten Fällen reicht es nicht aus, Zahnfehlstellungen zu beheben.
„Schief stehende Zähne“ sind meist Folge von Kieferfehlstellungen, die durch frühkindliche Wachstumsstörungen oder erblich bedingte Faktoren entstanden sind. Gepaart mit Habits führen sie zu einer funktionellen Dysharmonie zwischen Kiefer, Kiefergelenk, Weichteilen und Gesichtsmuskulatur. Mittels Anwendung funktionskieferorthopädischer bimaxillärer Apparaturen wird Schritt für Schritt die Lagebeziehung des Unterkiefers zum Oberkiefer korrigiert, seine Zwangsführung aufgehoben, Wangen- und Zungenfunktion werden optimiert, der Mundschluss und das Atmen durch die Nase erleichtert. Wie der Name sagt, wirken diese Apparaturen unter Funktion, also beim Sprechen und Bewegen der Wangen, Zunge und Lippen.

Aber auch nach Abschluss des Zahnwechsels ist es möglich, mit der kieferorthopädischen Behandlung zu beginnen. Dann wird im Sinne von Einzelzahnbewegungen vorwiegend die festsitzende Behandlungsmethode angewendet, mit der bereits ausgeprägte Zahnstellungsanomalien beseitigt werden können. Unterstützend wirken dabei Apparaturen, die mittels Implantaten oder Miniscrews am Gaumen verankert sind. Mit einer 3D-Röntgenaufnahme werden die Strukturen des Gaumens ganz genau erfasst und mittels Computeranalyse bestimmt, wo und in welchem Winkel die Implantate gesetzt werden können.

Dementsprechend wird eine Bohrschablone gedruckt, mit deren Hilfe der Kieferorthopäde die Implantate oder Miniscrews im Gaumen setzen kann. Die von dir gebogenen Apparaturen werden auf dem Arbeitsmodell entweder durch Löten oder Lasern fest mit den Molarenbändern verbunden oder als steckbare Verbindung gefertigt.

Alternativ zur festsitzenden Behandlung lassen sich Zahnstellungskorrekturen auch durch die Anwendung von Alignern und Setup-Schienen durchführen.

Dank digitaler Verfahrensweisen werden mittels Intraoralscanners die Mundverhältnisse ermittelt, in den Computer übertragen und berechnet. Du kannst am virtuellen Modell äußerst präzise die noch mögliche Zahnbewegung errechnen oder die optimale Position der zu setzenden Brackets oder Attachments bestimmen. Die Schienen werden dann auf den entsprechend gedruckten Modellen tiefgezogen, die Brackets in den Schienen fixiert und per indirektem Bonding dem Patienten eingesetzt.
Bei schwerwiegenden Kieferfehlstellungen, die nur mithilfe eines chirurgischen Eingriffs zu beheben sind, wird die bevorstehende Operation Schritt für Schritt am Computer geplant.

Mithilfe eines Bissregistrats, das unter Verwendung eines Gesichtsbogens am Patienten erzeugt wurde, vollziehst du die stufenweise durchzuführende OP am SAM-Artikulator und fertigst die benötigten OP-Splinte an, mit denen der Kieferchirurg die Kiefer während der OP fixieren wird. Oftmals suchen Erwachsene mit Kiefergelenkbeschwerden den Kieferorthopäden auf.

Bei der Untersuchung stellt sich heraus, dass zum Beispiel die neue Krone in der Okklusion stört oder dass der Unterkiefer durch einseitige Überbelastung zwangsgeführt oder in seiner Bewegung völlig blockiert wird. Mittels einer von dir gefertigten Aufbissschiene wird erreicht, dass die Kiefergelenksbewegung koordiniert, die Blockade oder Zwangsführung aufgehoben wird und der Patient wieder schmerzfrei sein kann. Aber auch kleine Kinder gehören zum Patientenkreis in der Kieferorthopädie, nämlich im Bereich der „Frühbehandlung“.

Ein vorzeitiger Milchzahnverlust, eine schwach entwickelte Lippenmuskulatur (durch stets offenem Mund) oder ein bereits ausgeprägter Kreuzbiss machen eine kieferorthopädische Behandlung notwendig.

Wie du weißt, wandern bei Zahnverlust die Kontaktzähne, um die entstandene Lücke zu schließen. Das muss im Milchgebiss verhindert werden, weil der Platz für die bald durchbrechenden bleibenden Zähne gebraucht wird. Ein anderes Erscheinungsbild für die Frühbehandlung ist ein zu gering entwickelter Oberkiefer. Durch das Anfertigen einer GNE (Gaumennahterweiterung) wird der Oberkiefer „verbreitert“, sodass er – aus der Kreuzbissstellung herausgeführt – mit dem anschließenden Tragen eines Funktionsreglers sich normal entwickeln kann.

Natürlich müssen die kleinen Patienten zum Tragen ihrer „Zahnspangen“ motiviert werden. Dabei ist auch deine Fertigkeit als Zahntechniker gefragt. Dir steht Kunststoff in verschiedenen Farben zur Verfügung; du kannst bunten Glitzer oder kleine Bilder in die Basis einarbeiten und somit kleine Kunstwerke schaffen. Du musst aber stets darauf achten, dass deine gefertigten Apparaturen funktionell und mühelos händelbar und auf jeden Fall so grazil wie möglich in ihren Ausmaßen sind. Fertigst du Apparaturen für die festsitzende Behandlung an, musst du beachten, dass sie auch später unter Funktion keine Druckstellen erzeugen, die starke und schmerzhafte Schleimhautirritationen nach sich ziehen können.

Es versteht sich von selbst, dass im Laufe der langen Behandlungszeit mehrere Zwischendiagnos­tiken erhoben werden. Sei es in digitaler Form oder als Gipsmodell, sie werden benötigt, um die erreichten Veränderungen während der Behandlung nachvollziehen und darlegen zu können.
Vergleicht man gemeinsam mit dem Patienten den Abschlussbefund mit der Ausgangssituation, ist dieser oftmals über das erreichte gute Ergebnis sehr erstaunt und verlässt voller Stolz und Freude die Praxis. Enge Teamarbeit zwischen Kieferorthopäde und Zahntechniker ist Garant für ein gutes Behandlungsergebnis, und du als Zahntechniker leistest einen wichtigen Beitrag zu diesem Erfolg.

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